Ganz nah am Wunder
„Ich kann Ihnen nicht sagen, ob und was sie wahrnimmt. Sie reagiert auf niemanden, nicht einmal auf ihren Sohn. Es ist trotzdem gut, wenn Sie kommen.“ Ich bin ehrenamtliche Hospizbegleiterin und zum ersten Male besuche ich Frau A.
Die Pflegedienstleitung stellt mich ihr vor. Sie liegt in den weißen Laken, ein schmaler Kopf mit dünnem wirren Haar, einem zusammen gekniffenem Mund und Augen, die uns zugleich böse und leer anschauen. Sie ist dünn, wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Das Vögelchen piepst verzweifelt und sie? Wimmert. Unablässig.
Ich spreche mit ihr. Ihre Augen gleiten durch mich hindurch. Ich berühre ihre Hand. Sie flieht. Ihr Wimmern. Mein Schweigen. Weint sie? Klagt sie? Ist das ihre Sprache?
Ich treffe ihren Ton erst nach einigen zitternden Versuchen. Ich singe den Ton, einfach, ohne Klagen, ohne Fragen, nur den Ton. Er schwingt mit ihr. Eine kleine Weile klingen wir zusammen. Dann hebt sich ihre Hand, fährt durch die Luft, nähert sich mir, legt sich auf meinen Mund.
Atemlose Spannung. Sie tut etwas. Sie gibt mir ein Zeichen. Sie will, dass ich aufhöre zu singen! Ich habe verstanden. Ich höre auf. Glücklich. Ein klares Zeichen. Von ihr, die sich sonst nur mit Schreien, Stoßen, Kreischen bemerkbar machen kann.
Danke! Danke für dieses Zeichen. Ich verstehe: Sie will nicht, dass ich in ihrer Sprache spreche.
Jetzt schweige ich wieder. Lange halte ich das nicht aus. Ich lehne mich zurück. Singe leise vor mich hin. Nicht für sie. Für mich. Meine Stimme beruhigt mich, beruhigt das Verstörte in mir, das durch ihr Wimmern alarmiert wird. Ich schaue sie dabei an. Lächelt sie?
Eine Woche später
„Nichts erwarten – nichts erhoffen. Dasein.“ Das nehme ich mir vor. Es ist wieder Montag.
„Hallo Frau A!“ Ich rufe es ihr zu, während ich den Mantel aufhänge. Ich bin willkommen! Sie freut sich!
Unsinn – das bilde ich mir ein! Ihre Hand in meiner. Sie bleibt, sie flieht nicht. Das ist keine Einbildung.
„Schön, dass Sie mich heute so herzlich begrüßen. Ich freue mich sehr!“ Es ist eine Floskel - in Wirklichkeit bin ich total gerührt.
Sie bewegt sich, will sich aufrichten. Aufrichten, hinlegen. Aufrichten, hinlegen. Aufrichten hinlegen. Eine Weile machen wir das, dann muss mir etwas anderes einfallen. Die Basale Stimulation. Ich berühre ihre Schultern. Umfasse sie mit leichtem Druck. So wie ich es gelernt habe. Ja, das passt. Sie wehrt sich nicht. Meine Hände gleiten hinunter zum Ellenbogen. Umfassen ihn.
„Ich halte Ihr Gelenk. Es ist wie eine Kugel. Und ich halte sie. Ich halte Sie!“ Natürlich versteht sie meine Worte nicht, aber sie lässt die Berührung zu. Erlaubnis. Weiter machen, mit dem Handgelenk, jedem einzelnen Finger. An beiden Armen. Mehr Berührung traue ich mich nicht.
„Geben Sie mir mal meinen Stock!“ Das war SIE: SIE hat gesprochen. Einen Satz, einen ganzen Satz. In Wirklichkeit war er tiefstes Mannheimerisch. Sie will ihren Stock. Ich habe sie mit der Basalen Stimulation mobilisiert und jetzt will sie los!
„Ja natürlich Frau A. Ich hole ihn. Aber während ich ihn suche, können wir ja ein bisschen erzählen. Sie waren Schneiderin, nicht wahr.“ Gut, dass ich das weiß, ich muss jetzt reden, wir müssen jetzt dran bleiben. Und sie antwortet: „Das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern.“ Ändern, Änderungsschneiderei. Ich registriere den Zusammenhang, Sie redet in Zusammenhängen! Ich muss weiter reden. „Wie wäre es, wenn Sie...“ Ich schaue mich um, gibt es irgendetwas im Raum? Nur der riesige schwarze Fernseher. Na gut, dann eben der. „Wie wäre es, wenn Sie dem Fernseher ein neues Kleid schneidern würden. Das Schwarze ist doch furchtbar, viel zu dunkel. Was meinen Sie? Welche Farbe sollen wir nehmen?“
Sie zuckt mit den Schultern. Das ist eine Antwort. Eine Erinnerung an die Art, wie man mit dem Körper antwortet. Ich bin stumm vor Ehrfurcht. Sie sagt: „Ich hab keine Ahnung!“
Sie hat noch mehr gesagt an diesem Tag, aber ich erinnere mich nicht mehr. Es war so aufregend. Und ich musste so präsent sein, dass jeder Augenblick die Erinnerung an den vorhergehenden geschluckt hat.
Was auch immer dieses „Erwachen“ ausgelöst hat, wie auch immer es weiter gehen oder enden wird, ich gehe an diesem Tag mit dem Gefühl:
Du warst dem Wunder ganz nah.
(Brigitte Iffland, im November 2020)